eine Patientenverfügung, die jedoch nicht sicher auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation des Betroffenen passt und deshalb nicht unmittelbar wirkt, kann als Behandlungswunsch berücksichtigt werden.
Behandlungswünsche sind insbesondere aussagekräftig, wenn sie in Ansehung der Erkrankung zeitnah geäußert worden sind, konkrete Bezüge zur aktuellen Behandlungssituation aufweisen und die Zielvorstellungen des Patienten erkennen lassen. An die Behandlungswünsche des Betroffenen ist der Bevollmächtigte nach § 1901a Abs. 2 und 3 BGB gebunden (BGH FamRZ 14, 1909). Für die Annahme eines Behandlungswunsches ist ein mit einer Patientenverfügung vergleichbares Maß an Bestimmtheit zu verlangen. Wann eine Maßnahme hinreichend bestimmt benannt ist, kann nur im Einzelfall beurteilt werden. Ebenso wie eine schriftliche Patientenverfügung sind auch mündliche Äußerungen des Betroffenen auslegungsfähig (BGH, a.a.O.).
Abstellen auf den mutmaßlichen Willen des Betroffenen
Dass der mutmaßliche Wille der B eindeutig auf den Abbruch der künstlichen Ernährung gerichtet wäre, ist nicht feststellbar. Auf den mutmaßlichen Willen ist abzustellen, wenn sich sein auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation bezogener Wille nicht feststellen lässt. Der mutmaßliche Wille ist anhand konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln, insbesondere anhand früherer Äußerungen (die jedoch keinen Bezug zur aktuellen Lebens- und Behandlungssituation aufweisen), ethischer oder religiöser Überzeugungen und sonstiger persönlicher Wertvorstellungen des Betroffenen, § 1901a Abs. 2 S. 2 und 3 BGB.
MERKE | Der Bevollmächtigte stellt eine These auf, wie sich der Betroffene selbst in der konkreten Situation entschieden hätte, wenn er noch über sich selbst bestimmen könnte (BGH FamRZ 14, 1909). |
Die B hat der künstlichen Ernährung zu der Zeit, als sie noch kommunikationsfähig war, nicht widersprochen. Nach dem Text der privatschriftlichen Vollmacht hat sie ihren in der „Patientenverfügung“ geäußerten Willen nur in den Entscheidungsprozess eingebracht, woraus eine nur eingeschränkte Bindung und ein weiter Ermessensspielraum der T2 bei der mit der Ärztin zu findenden Entscheidung folgen. Zudem lässt die „Patientenverfügung“ mit der Anknüpfung an die „Erhaltung eines erträglichen Lebens“ und an die „angemessenen Möglichkeiten“ sowie mit dem unscharfen Begriff des „schweren“ Dauerschadens einen weiten Interpretationsspielraum. Dass die T2 diesen nur hätte ausfüllen dürfen, um die künstliche Ernährung abzubrechen, ist nicht ersichtlich.
Relevanz für die Praxis
Die Kontrollbetreuung muss erforderlich sein, § 1896 Abs. 2 S. 1 BGB. Notwendig ist der konkrete, durch hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte untermauerte Verdacht, dass mit der Vollmacht dem Betreuungsbedarf nicht Genüge getan wird. Es muss zu befürchten sein, dass sonst das Wohl des Betroffenen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erheblich verletzt wird. Bei der Entscheidung bezüglich lebensverlängernder Maßnahmen muss der Bevollmächtigte sich offenkundig über den Willen des Betroffenen hinwegsetzen. Dieser kann sich aus einer bindenden Patientenverfügung, aus dem Behandlungswunsch des Betroffenen oder aus dessen mutmaßlichen Willen ergeben.
Im Übrigen weist der BGH auf Folgendes hin: Besteht zwischen dem Bevollmächtigten und dem Arzt Einvernehmen darüber, welche Vorgehensweise dem Willen des Betroffenen nach § 1901a Abs. 1 und 2 BGB entspricht, braucht selbst eine Maßnahme i. S. d. § 1904 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB nicht gerichtlich genehmigt zu werden, § 1904 Abs. 4 und Abs. 5 S. 1 BGB. Einen Antrag, die Einwilligung in den Abbruch etwa einer künstlichen Ernährung zu genehmigen, müsste das Betreuungsgericht ohne weitere Ermittlungen ablehnen und ein sog. Negativattest erteilen (BGH FamRZ 14, 1909).
Quelle: Erbrecht effektiv, IWW Verlag, Ausgabe 10/2016